Drusen im Gebiet der israelischen Golanhöhen streiten um die Zukunft ihrer Heimat Syrien. Eine junge Generation von AktivistInnen fordert das Weltbild der traditionellen Gesellschaft heraus.
Scheich Qasim Abu Shahin schnellt in die Höhe und setzt hektisch seine weiße Kopfbedeckung auf. Die Beine legt er ausgestreckt auf den braunen Teppich, der den Wohnzimmerboden bedeckt. Er bekommt nicht oft Besuch aus dem Ausland, hier im Drusendorf Buqata, tief in den Hügeln der Golanhöhen im Norden Israels. Ein alter Röhrenfernseher bringt gerade Nachrichten über die Demonstrationen in Syrien. „Alles Terroristen“, sagt Abu Schahin plötzlich und zeigt mit dem Finger hinüber zum TV. Damit beschimpft er aber nicht die Einheiten des Regimes von Präsident Bashar al-Assad, sondern „die von außen gegen Syrien aufgehetzten Demonstranten“, wie er sie nennt.
Der Scheich ist 85 Jahre alt, geboren 1926, nur ein Jahr, nachdem der berühmte Druse Sultan Pasha al-Attrasch die syrische Revolte gegen die Franzosen anführte. „Doch damals hat unsere Gemeinschaft gegen die Franzosen gekämpft, heute greifen Demonstranten ihre eigene syrische Nation an“, sagt Abu Schahin, während eine Frau in schwarzem Kleid und weißer Schürze Tee serviert. Sie ist die Krankenpflegerin und das Dienstmädchen des Scheichs und bittet mich, ihm nicht mehr allzu viele Fragen zu stellen, weil er sich sonst zu sehr aufregt. Doch eines will Abu Schahin noch sagen: Er hoffe, dass die Golanhöhen von Israel bald wieder unter die Kontrolle Syriens fallen. Und mit Bashar al-Assad als Präsident. Insha’allah, fügt er hinzu. So Gott will.
Der 85-jährige Scheich von Buqata ist ein geistliches Oberhaupt seines Dorfes, aber auch einer von mehreren traditionellen Führern dieser einzigartigen Religionsgemeinschaft. Insgesamt leben heute rund 19.000 Drusen, verteilt auf vier Dörfer, in den von Israel besetzten Golanhöhen. Seit dem 10. Juni 1967, als Israel am Ende des so genannten „Sechs-Tage-Krieges“ gegen Ägypten, Jordanien und Syrien den Golan eroberte, lebt die religiöse Minderheit dort unter israelischer Kontrolle. Doch kaum jemand hier hat die israelische Staatsbürgerschaft angenommen. Denn im Herzen fühlen sich die meisten DrusInnen des Golan als Syrer. Aber darüber, wie sich dieses Nationalgefühl in Bezug auf die Aufstände in Syrien äußert, wird heftig gestritten. Eine junge, gebildete Generation von Drusen, Männer und Frauen, lockt unter dem Einfluss des Arabischen Frühlings die traditionelle Gesellschaft aus der Reserve.
Schon zu Beginn der Aufstände gegen das Regime in Syrien haben 99 junge AktivistInnen aus dem Golan ein Manifest verfasst, in dem sie sich mit der „Syrischen Revolution“ solidarisch erklärten. „Ihr seid die Stimme und wir das Echo“, heißt es in der ersten Zeile der Erklärung in arabischer Sprache. Eine der Unterzeichnerinnen ist die 25-jährige Schefa Abu Jabal. Ich treffe sie in Majdal Shams, dem größten der vier Drusendörfer im Golan. Die Sonne brennt an diesem frühen Nachmittag vom wolkenfreien Himmel herab.
„Ich weiß, es ist früh. Aber ich brauche ein Bier“, sagt Schefa, als ich in ihr Auto steige. Wir gehen in die Bar „Undefined“. Der Name soll darauf anspielen, dass die Drusen hier zwar in Israel leben, sich aber vielmehr als Syrer fühlen. In dieser traditionellen Gesellschaft sei es nicht leicht, eine andere Meinung zu haben, erklärt die junge Drusin, während der Kellner zwei Flaschen eisgekühltes Bier serviert. Sie sei seit Beginn der Proteste in Syrien in Kontakt mit Anti-Regime-AktivistInnen. Daneben schreibt sie einen Blog und twittert über die „Revolution“. „Ich will die Wahrheit über meine Heimat Syrien ans Licht bringen“, sagt sie. Doch für die Oppositionellen in Syrien ist der direkte Kontakt übers Internet gefährlich. Deswegen laufen viele Nachrichten über geheime Facebook-Gruppen.
„Ich kenne sie und sie kennen mich. Aber wir können nie direkt in Kontakt treten“, erklärt Schefa. In Majdal Shams weiß man, dass mit der syrischen Geheimpolizei und ihren Foltermethoden nicht zu spaßen ist. Viele der jungen DrusInnen studieren in Syrien, und beinahe jede und jeder hat Familie auf der anderen Seite der Grenze. Würden ihre Dörfer in den Golanhöhen plötzlich offen die Anti-Regime-Bewegung gegen den Assad-Clan unterstützen, wäre die kleine Minderheit ein leichtes Ziel für Vergeltungsschläge. „In Syrien kontrollieren sie deinen Atem“, sagt sie. Für ihren politischen Aktivismus, ihre anti-traditionelle Einstellung und die Tatsache, dass sie all das tut und noch dazu eine Frau ist, muss sie einiges einstecken. Böse Blicke auf der Straße etwa. Ihre Familie wird kaum mehr zu Hochzeiten und Begräbnissen eingeladen. Auch ihre Freunde haben versucht, sie von ihrem Weg abzubringen. „Wenn der Golan wieder an Syrien geht, werden sie dich hängen“, habe sie eine Freundin gewarnt.
Die Drusen
Nach Schätzungen gibt es weltweit etwa eine Million Drusen. Der Großteil lebt in Syrien, im Libanon, in Israel und in den von Israel besetzten Golanhöhen. Ihr Glaube, der im Jahr 1010 entstanden ist, wurde stark von der ismailitischen Tradition des schiitischen Islam geprägt. Glaube und Praxis unterscheiden sich jedoch so sehr davon, dass von einer eigenen Religionsgemeinschaft gesprochen werden kann. Ihre Lehre weicht in vielerlei Hinsicht vom Islam ab. So glauben Drusen etwa an Seelenwanderung und an Reinkarnation.
A.H.
Als eine, die gerne Tabus bricht, hat es Schefa wie viele andere junge DrusInnen nicht leicht, denn Tradition spielt in ihrer Gesellschaft eine große Rolle. Hier ist man entweder Teil der Uqqal oder der Juhhal, was so viel bedeutet wie Eingeweihte und Unwissende. Die „Eingeweihten“ entscheiden sich früh, oft schon im Kindesalter, für den Weg der praktizierten Religion und müssen die Geheimnisse ihres Glaubens wahren. Die „Unwissenden“ haben in Sachen Religion und Tradition nichts zu sagen. Indem aber junge AktivistInnen die politischen Ansichten der Traditionellen im Dorf kritisieren, setzen sie auch ein Zeichen gegen deren konservative Lebenseinstellung. Ihre Kritik ist auch vom modernen Leben in Israel beeinflusst. Viele Jugendliche studieren in israelischen Städten wie Haifa und Tel Aviv, wo das Leben anders abläuft als es die Dorfältesten gerne hätten. Rauchen, Bier trinken, knappe Kleidung und Ohrringe sind für Frauen hier eigentlich tabu.
Etwas später am Abend treffe ich den 46-jähigen Qasim, der mich auf einen Kaffee in sein Geschäft einlädt. Er habe eine Antwort auf die Frage, warum viele hier trotz der Massaker an Demonstrierenden immer noch hinter Präsident Bashar al-Assad stehen. „Die alten Scheichs begreifen nicht, was in den Straßen von Ägypten und Tunesien passiert ist. Sie verstehen also auch nicht, was heute in Syrien vor sich geht. Sie sind ungebildet. Politik ist für sie vor allem Tradition“, sagt er. Es sei eben die Rolle der Alten, den Status Quo zu erhalten. Wären sie plötzlich gegen das Regime in Syrien, würden sie diese Rolle als Bewahrer der Traditionen verlieren.
Außerdem seien viele hier für Assad, weil er sich „gut um die drusische Minderheit gekümmert hat“. Dabei geht es auch um den Schutz gegen mögliche Angriffe radikaler Muslime, die in der Religion der Drusen eine Entweihung des orthodoxen Islam sehen. „Aber eine neue Generation bringt auch neue Sichtweisen. Die Scheichs glauben, dass sie die Regierung in Syrien unterstützen müssen, um patriotisch zu sein. Aber für die jungen Leute ist es genau umgekehrt. Ihr Patriotismus gehört dem Volk“, erklärt Qasim, während er mir die zweite Tasse Kaffee einschenkt. Plötzlich überzieht ein Film von Tränen seine Augen. Meine Fragen erinnern ihn an seine eigene Frustration über die Lage in Syrien, sagt er. Weil er das Morden in den Straßen nicht mehr aushielt, hat er vor zwei Wochen aufgehört, Nachrichten zu schauen. Aber eines sei sicher, fügt er hinzu. „Mehr und mehr Drusen kritisieren das Vorgehen der syrischen Regierung gegen die Proteste.“
Für den Fall eines Regime-Wechsels würden die Drusen jedenfalls hoffen, dass in Syrien nicht jene Islamisten die Überhand bekommen, vor denen sie das Regime der Assad-Familie bislang beschützt hat. Denn auch Assad ist Angehöriger einer religiösen Minderheit. Über den Ausgang des Konflikts in Syrien wollen die meisten Drusen nicht spekulieren. Doch eines sei klar, erklärt ein bekannter Aktivist aus Majdal Shams: „Wenn die Regierung gewinnt, wird sie auf wackeligen Beinen stehen. Wenn die Aufstände Assad stürzen, wird die Situation genauso instabil. Der einzige Weg ist also ein Kompromiss. Assad muss die Türen für den Wandel öffnen.“ Solange wird sich Schefa weiter für Wandel in ihrem Dorf und in Syrien einsetzen, twittern und bloggen. Am 3. August schreibt sie auf Facebook sarkastisch: „Die für heute größte Errungenschaft des syrischen Regimes: 13 Häftlinge im Hama-Zentralgefängnis erschossen.“
Andreas Hackl hat in Wien Kultur- und Sozialanthropologie und Politikwissenschaft studiert. Er arbeitet als freier Journalist und hält sich immer wieder längere Zeit in Israel auf.
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